Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
vor einem Jahr, als wir hier zum Gedenken zusammengekommen sind,
war die Welt noch eine andere.
Ich bin am Morgen des 24. Februar wie immer vom Radio geweckt worden.
Ich hörte von Fahrzeugkolonnen,
Menschen auf der Flucht,
Angriffen auf Radarstationen.
Ich dachte zuerst:
Die haben sich im Programm vertan.
Normalerweise werden zu dieser Zeit Nachrichten gesendet,
keine Dokumentationen über historische Kriege.
Dann wurde mir mit jeder Minute klarer:
Das SIND die Nachrichten –
über einen neuen Krieg,
hier in Europa.
Ich bin, wie Sie alle auch,
an jenem Morgen des 24. Februar
in einer anderen Zeit,
in einer anderen Welt aufgewacht.
Separatismus- oder Bürgerkriege
gab es auch nach 1945
schon viele in Europa.
Der 24. Februar 2022 aber markiert eine neue Epoche:
Es ist der erste Angriffskrieg
in Europa nach 1945.
Nie wieder Krieg!
Das ist die Parole,
die zum Gedenkritual dieses Tages gehört.
Jetzt kann man es nicht mehr sagen.
Denn jetzt IST WIEDER Krieg!
Einmal ungeachtet der anderen Kriege
und gewaltsamen Konflikte,
die es in aller Welt schon länger gibt:
Der Bürgerkrieg in Syrien: 570.000 Tote.
Etwa gleichviel Tote gibt es seit 2020
im Äthiopischen Bürgerkrieg.
Die Jemen-Krise: 400.000 Tote.
Und bis jetzt in der Ukraine: 200.000 Tote.
Dass uns der Ukrainekrieg so sonderbar berührt
und die anderen Kriege und ihre Opfer verdrängt
– das sage ich kritisch –
hat verschiedene Gründe:
Der eine ist die räumliche Nähe:
Berlin – Madrid.
Berlin – Kiew.
Das ist dieselbe Strecke.
Der andere ist die Nähe zur eigenen Geschichte:
Eine Frau sagte mir:
Lviv, damals Lemberg, Warschau, Berlin, Hannover.
Die Strecke sind wir damals auch gekommen.
Das dort im Osten sind die Bloodlands,
die "Blutlande" des zweiten Weltkriegs.
So hat Timothey Snyder, ein US-amerikanischer Historiker,
die weiten Ebenen zwischen Deutschland und Russland bezeichnet.
14 Millionen Menschen wurden auf diesen Bloodlands getötet.
In den Vernichtungslagern und Ghettos der Nazis.
Im Holomodor, einer Hungerkatastrophe, mit der Stalin die Bevölkerung der Ukraine in die Knie zwingen wollte.
In den Schützengräbern des zweiten Weltkriegs.
Und auch jetzt kämpfen und sterben dort wieder Soldaten.
Es gibt Szenen, in denen sich diese Geschichten überlagern, die einen einfach nur fassungslos machen:
In der Nähe von Wyschgorod bei Kiew wollten ukrainische Soldaten eine Verteidigungsstellung ausheben.
Dabei stießen sie auf die Gebeine deutscher Soldaten.
Die hatten vor mehr als 75 Jahren an der gleichen Stelle schon einmal eine Stellung ausgehoben.
Ungeachtet der Kämpfe mit russischen Angreifern legten die ukrainischen Soldaten die Knochen und Ausrüstungsgegenstände der deutschen Soldaten – der früheren Feinde(!) – vorsichtig frei und übergaben sie dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der die Gebeine auf einer Kriegsgräberstätte würdevoll umbetten ließ.
In den vergangenen Jahren habe ich öfter die Frage gehört:
Brauchen wir noch dieses Gedenken am Volkstrauertag?
Dieses Ritual in der Novemberkälte
mit Kränzen und Worten und Musik?
Ich meine: Ja!
Denn es ist stark, sich der eigenen Geschichte zu stellen.
Es ist stark, Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Es ist stark, sich berühren zu lassen vom Elend und Leid.
Es ist stark, sich zu erinnern.
Und es ist gefährlich, zu vergessen und zu verdrängen.
Und trotzdem reicht es nicht aus,
dass wir uns alljährlich hier versammeln.
Und es reicht nicht aus,
dieses Thema an den Geschichtsunterricht
in der Schule zu delegieren.
Wissenschaftliche Forschung hat gezeigt,
dass für das Geschichtsbild von jungen Menschen
besonders die Erzählungen prägend sind,
die in der eigenen Familie verwurzelt sind
und dort erzählt werden.
Das Familiengedächtnis hat eine besondere emotionale Kraft.
Und deshalb muss es auch um die Frage gehen:
Wie sprechen wir mit unseren Kindern und Enkelkindern über die damalige Zeit und das Unrecht, das damals geschehen ist?
Welche Fluchterfahrungen gibt es in der eigenen Familie, bei den Großeltern oder Urgroßeltern?
Welche Gedenkorte kann ich mit meinen Enkelkindern aufsuchen,
um sie sensibel zu machen für die Gefahr,
die von der Ausgrenzung und Herabwürdigung anderer Menschen ausgeht?
Es lohnt sich, diese Fragen in der eigenen Familie zum Thema zu machen.
Vielleicht ja auch, das Kind oder Enkelkind im kommenden Jahr einmal mitzunehmen zu einer Gedenkveranstaltung wie dieser.
Gerade jetzt, wo der Krieg zurück ist in Europa.
Denn das macht auch den jungen Menschen Angst.
Wir brauchen den Austausch zwischen den Generationen zu diesen wichtigen Fragen.
Zu viel hängt vom Frieden ab.
Im Anschluss wurde das Totengedenken des Bundespräsidenten verlesen.